„Weil ich selbst so viel Glück hatte, musste ich den Menschen doch helfen“
Ravensburg – Es hätte nicht viel gefehlt, und Klothilde Dengler wäre in der Modebranche gelandet statt im St. Elisabethen-Klinikum in Ravensburg. Mit 15 hatte sie ein Angebot, Verkäuferin bei einem in der Region bekannten Damen- und Herrenausstatter zu werden – aber ihr Lehrer legte ein Veto ein: „Er sagte: ,Klothilde, du hast so gute Noten, du musst Mittlere Reife machen, du wirst Krankenschwester, da verdient man auch besser.‘ Und er überzeugte auch meine Eltern, dass ich die zweijährige Klasse an der sozial-pädagogischen Edith-Stein-Schule abschließen konnte“, erzählt die Älteste von vier Töchtern. Fast allen Schülern habe ihr Lehrer damals den passenden Ausbildungsplatz vermittelt.
Dass die Franziskanerinnen von Reute, die damals das EK betrieben, die junge Frau auswählten – auf jeden Platz kamen zu jener Zeit 20 Bewerberinnen –, hatte Klothilde Dengler, die aus Bergatreute stammt und heute in Baienfurt wohnt, ihrem Fleiß zu verdanken: Bereits in den Ferien hatte sie immer in Reute gearbeitet, im Rahmen ihrer Ausbildung diente sie dann auch ein halbes Jahr im klösterlichen Haushalt. Die Treue zahlte sich aus, für beide Seiten: Seit 46 Jahren pflegt die 64-jährige inzwischen Patienten aus der Neurologie, Urologie und Gefäßchirurgie an der Oberschwabenklinik, heutzutage auf der Station A22. Seit 35 Jahren arbeitet sie nun als Nachtwache. „Ich bin immer gerne in die Klinik gekommen, ich hatte immer großes Glück mit meinen Kolleginnen“, sagt sie. „Und die Arbeit gibt einem so viel.“
Tatsächlich ist die Pflege ein Beruf, der Klothilde Dengler quasi in die Wiege gelegt wurde. „Ich bin gerne unter älteren Menschen, das war schon als Kind so. Ich war viel mit meiner Oma zusammen, jede Woche kamen vier Freundinnen zu ihr zum Kaffee. Ich fühlte mich dort immer sehr wohl, hatte zu allen Frauen guten Kontakt. Und als meine Großmutter später krank wurde, habe ich sie mit meiner Mutter zusammen gepflegt. Ursprünglich wollte ich deshalb Altenpflegerin werden.“
Wie wichtig ihre Arbeit ist, bekam Klothilde Dengler als 20 Jahre junge Frau am eigenen Leib zu spüren: Im dritten Lehrjahr erkrankte sie an einem Gehirntumor. Er war gutartig, aber extrem selten. Der Krebs ging vom Knochen aus, und ihre Überlebenschancen standen schlecht. „Ich hatte motorische Ausfälle“, erzählt sie, „es sah nicht gut für mich aus. Aber ich hatte großes Glück. Ich wurde rechtzeitig am EK operiert, der Tumor wurde entfernt. Nach der Reha musste ich das Jahr wiederholen, aber ich habe mich wieder vollständig erholt. Der liebe Gott hat es gut mit mir gemeint.“
Auch deshalb versuchte sie, etwas zurückzugeben. Nach dem Examen wollte sie auf der Station arbeiten, auf der sie selbst gelegen hatte – der neurochirurgischen Wachstation vor den OP-Sälen, wo damals die frisch am Kopf operierten Patienten versorgt wurden. „Weil ich selbst so viel Glück hatte, musste ich diesen Menschen doch helfen, das war wichtig für mich. So konnte ich ihnen erzählen, wie es mir ergangen ist, dass ich wieder gesund bin. Das hat ihnen gutgetan, so konnten sie Hoffnung schöpfen.“ Als ein 18-Jähriger an einem Gehirntumor gestorben sei, sei sie allerdings ins Zweifeln gekommen. „Warum musste er sterben, und ich hatte so viel Glück? Das konnte ich lange nicht verstehen. Aber man muss Gutes tun, man darf die Hoffnung nicht aufgeben“, sagt sie. „Mein Glaube hat mich schließlich gerettet.“
Besagte Wachstation von einst gibt es heute nicht mehr, neurochirurgische Patienten werden im EK inzwischen in IMC, Intensiv- und Überwachungsstationen versorgt. Ohnehin habe sich in ihrem Arbeitsleben medizinisch fast alles verändert und verbessert, erzählt Klothilde Dengler. Beispiel: Damals habe es neben dem OP eine Art Radiologie-Bunker gegeben, in der Unterleibskrebs-Patientinnen teils 24 Stunden lang Radiumjod-Einlagen bekamen. „Hier hatten ausschließlich die Ordensschwestern Zugang, wegen der Strahlung.“ Auch ein Acht-Bett-Unfallchirurgie-Zimmer mit meist sehr jungen männlichen Patienten habe damals existiert. „Auch hier hatten junge Pflegerinnen keinen Zutritt. Das war strikt verboten. Auch dieses Zimmer war Sache der Ordensschwestern, sie wollten uns vor vielerlei Gefahren bewahren“, erzählt Klothilde Dengler lächelnd.
Als sie später eine Familie gründete und Tochter und Sohn bekam, beschloss sie, die Station zu wechseln und künftig als reine Nachtwache zu arbeiten, ein Modell, das damals vor allem Müttern vorbehalten war. Acht Nachtdienste leistete Klothilde Dengler damals pro Monat, vor allem am Wochenende, wegen der Betreuung der Kinder. „Seither bin ich ein Nachtschattengewächs“, sagt sie, „und das hat auch deshalb so gut funktioniert, weil wir Nachtwachen den Dienstplan solidarisch selbst erstellt haben, weil jede auf die andere Rücksicht nahm. Wir sind heute noch zwölf Nachtwachen, die sich regelmäßig treffen. Ich bin die letzte von uns, die noch arbeitet. Gott sei Dank kann ich noch immer gut schlafen.“
Auch aus diesem Grund überlegt sich die 64-Jährige, nach ihrem offiziellen Rentenbeginn noch für eine Nacht pro Woche weiterzuarbeiten. „Bald kommt die elektronische Krankenakte, ich weiß nicht, ob ich das noch kann, aber es gibt ja tolle Schulungen“, sagt sie. „Und immer, wenn etwas Neues kommt, schreibe ich mir die Dinge Schritt für Schritt auf. So lernt man die Sachen.“
Angst muss Klothilde Dengler, die auch in ihrer Familie bereits die Pflege von Angehörigen übernahm, vor kaum mehr etwas haben. Sie hat gelernt, die Nerven zu behalten, wie das Erlebnis zeigt, das ihr in ihren 46 Berufsjahren am besten in Erinnerung ist. Eines nachts hörte sie einen Kranken um Hilfe rufen - bei akut gefährdeten Patienten lässt sie immer einen Spalt die Tür offen, auch, falls mehrere Patienten gleichzeitig klingeln. Klothilde Dengler war gerade in einem anderen Zimmer, lief schnell zu dem Mann, der geschrien hatte, sah, dass er stark aus der Arterie blutete, drückte gegen das Blutgefäß - und rettete ihm so das Leben. „Wieder hatte Gott mir geholfen“, erinnert sich die Nachtwache. „Ich hatte einfach einen Schutzengel.“