Notfallversorgung für die Seele (Helfende Helfer)

Immer wieder diese Bilder, diese Geräusche, dieser eine Arbeitstag in der Notaufnahme. Unerträgliche Erinnerungen an einen Notfall, den Marion H. (Name geändert) nicht verarbeiten kann. Ein Notfall, der ihr sogar körperliche und psychische Beschwerden bereitet. Der Tag, der ihren beruflichen Alltag veränderte. Seit Wochen haben sich diese Geschehnisse in ihr Gedächtnis eingebrannt.

Marion H. erzählt in einer Nachgesprächsrunde mit dem SbE-Team (Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen) ihre Erlebnisse und Emotionen von diesem Notfall. Es war an einem Mittwochnachmittag: Ein 22-jähriger Mann kommt mit seinem Auto von der Straße ab und prallt frontal gegen einen Baum. Er erleidet ein Polytrauma (Mehrfachverletzung), darunter eine schwere Kopfverletzung. Er muss am Unfallort reanimiert werden. Mit dem Rettungshubschrauber wird er in das Krankenhaus St. Elisabeth in Ravensburg eingeliefert. Ein 10-köpfiges Team, darunter Marion H., kämpft im Schockraum im EK um sein Leben - leider ohne Erfolg. Diese Nachricht muss Marion H. gemeinsam mit einem Arzt der wartenden Familie überbringen und die Abschiednahme vom Verstorbenen organisieren.

Es ist ihr anzusehen, wie belastend diese Situation für sie war und immer noch ist. Jeden Tag, wenn sie ihre Arbeit in der Notaufnahme aufnehmen will, verfolgen sie die Bilder und die Erinnerungen. Die schweren Verletzungen des jungen Mannes, die verzweifelten Gesichter der Angehörigen. Marion H. berichtet, dass sie Schweißausbrüche und Schwindel erleidet, wenn sie an die Stelle in der Notaufnahme tritt, wo die Familie stand. Sie leidet unter Schlafstörungen und Alpträumen. Kollegen merken, dass sie sich immer mehr zurückzieht. Zusätzlich überkommen sie Schuldgefühle. Sie weiß, dass sie alles erdenkliche in dieser Situation für den jungen Mann getan hat, um ihm das Leben zu retten. Doch das beklemmende Gefühl bleibt. Eine derartige Situationsbeschreibung und die Symptome sind für Georg Roth nichts ungewöhnliches. Er ist Leiter des Projekts "Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen", Pflegepädagoge und Fachkrankenpfleger für Intensivpflege und Anästhesie in der OSK. "Solche Reaktionen sind zunächst ganz normal, sollten aber nach einer gewissen Zeit auch wieder verschwinden", erklärt Georg Roth. Tun sie das nicht, rät er den Betroffenen, sich Hilfe zu suchen, so wie Marion H.

Um ihre seelische Belastung zu mindern, wird sie innerhalb des Gespräches gebeten, die Situation zu rekonstruieren, um keine wichtigen Details auszulassen und um einen sachlichen Überblick zu erhalten, soll sie die Situation auf ein großes Papier aufmalen. Im weiteren geht das Stressbearbeitungsteam mit präzisen Leitfragen auf ihre Probleme ein. Mit diesen Fragen sollen ihr Lob und Anerkennung für ihre Arbeit vermittelt und ihre Schuldgefühle genommen werden. Ihr Einsatz war vorbildlich. Für Marion H. ist es sehr hilfreich, dass sie in der Gesprächrunde mit Menschen sprechen kann, die solche oder ähnliche Situationen auch schon mal erlebt haben. Gerade hier reicht manchmal der Kontakt zu Kollegen nicht aus um, den Gesprächsbedarf zu decken. Das Team zeigt ihr Perspektiven auf, wie sie ihren beruflichen Alltag wieder stressfrei bewältigen kann, handlungsfähig bleibt und nicht krank davon wird. Das Schlimmste, was in seinem solchen Fall eintreten könnte, wäre eine Traumafolgestörung, zum Beispiel eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Diese kann im schlimmsten Fall zur Berufsunfähigkeit führen. Dieser folgenschweren Erkrankung wollen Georg Roth und das gesamte SbE-Team der Oberschwabenklinik, darunter Katharina Axenfeld, ebenfalls Pflegepädagogin und Fachkrankenschwester für Intensivpflege & Anästhesie, Dr. med. Susanne Bachthaler, Fachärztin für Chirurgie und Psychosomatische Medizin, und Wiebke Glaser, Referentin Gesundheit und Soziales, mit ihrem Projekt "Stressbearbeitung nach belastenden Ereignissen" vorbeugen.

Dieses Projekt bietet eine psychosoziale Unterstützung, das heißt, von Helfern für Helfer an und findet in der Oberschwabenklinik immer mehr Zulauf. Projekte dieser Art haben sich schon seit über 25 Jahren bei Rettungsdiensten wie dem Deutschen Roten Kreuz oder der Feuerwehr bewährt. Georg Roth und seinem SbE-Team ist es gelungen, solch ein Projekt erstmals in einem Krankenhaus zu etablieren und den Mitarbeitern somit die Möglichkeit zu geben, sich nach belastenden Ereignissen Hilfe zu suchen und in einer vertrauensvollen Umgebung ihre Probleme zu schildern und aufzuarbeiten. Marion H. kann heute ihrem Beruf als Gesundheits- und Krankenpflegerin wieder ohne Einschränkungen ausüben. Sie bereut es nicht, sich in ihrer Situation Hilfe gesucht zu haben.

Info:

Das SbE-Team bietet Einzel- und Gruppennachgespräche für Kolleginnen und Kollegen aller Berufsgruppen nach belastenden Ereignissen an.

Es wurde ein klinikinternes Gesprächsmodell entwickelt und die ersten Ergebnisse evaluiert. Mit einem solchen Angebot ist die Oberschwabenklinik deutschlandweit Vorreiter. Dieses "Leuchtturmprojekt", wird unter dem Motto "Betriebliche Gesundheitsförderung" angeboten und von einer Projektgruppe des Master-Studiengangs Management im Sozial- und Gesundheitswesen der Hochschule Ravensburg-Weingarten wissenschaftlich begleitet.