„Ich habe ein vollkommen neues Gefühl im Bein“

Im Bild von links nach rechts: Orthopädietechniker Kazim Yildirim vom Ravensburger Sanitätshaus Orthopädie Kühn, Kevin Nennemann, Chefarzt Prof. Dr. Jörn Zwingmann und Wahid Akbarzada, Geschäftsführer der Orthopädietechnik Kühn.
RAVENSBURG – Am 17. Mai 2010 prallte ein Auto mit 100 km/h frontal in den Wagen von Kevin Nennemann. Der damals 24-Jährige aus Waldbrunn bei Heidelberg war mit 40 km/h auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Nennemann wurde schwer verletzt, er kämpfte um sein Leben. Drei Wochen lang lag er mit einem Polytrauma im Koma. Als ein Arzt der Uniklinik Mannheim ihm später in einer nicht enden wollenden Aufzählung mitteilte, was alles in seinem Körper gebrochen, zertrümmert, gequetscht und gerissen war, war es ein Schock für ihn. „Mein ganzer Körper unterhalb meines Bauchnabels war kaputt, vor allem das rechte Bein, das vier offene Brüche hatte. Meine Mutter sagte mir dann: Junge, sei doch froh, dass Du noch lebst, aber das wollte ich damals nicht hören. Ich sagte zu ihr: Ja Mama. Aber keiner hat mich gefragt, ob ich so leben will.“
Vier Wochen lang versank Kevin Nennemann in Verzweiflung, nur vier Wochen lang, denn wenn er aufzählt, wie viele Operationen er seither hatte – allein 40 in den ersten sechs Monaten nach dem Unfall –, könnte einem schwindlig werden. Aber er gab nicht auf. Bereits nach einem Jahr ging er wieder arbeiten, humpelnd zwar, aber umso motivierter. Mit Hilfe von Freunden baute er später sein Haus um, vergrößerte seine Familie um zwei weitere Kinder. Nur sein rechtes Bein ließ den nun dreifachen Vater nicht in Ruhe.
Sein Sprunggelenk war bei dem Unfall derart zertrümmert worden, dass es trotz zahlreicher Operationen irreparablen Schaden nahm. Jahre später, als Nennemann wegen eines Zehenbruchs für Wochen auf Krücken laufen musste, brach infolge Muskelschwunds sogar das Fersenbein ab – beim Turnschuh-Anziehen. Irgendwann wurden Sprunggelenk und Knie nach weiteren Problemen versteift, was eine Nekrose nach sich zog, ehe man 2022 bei einer CT feststellte, dass am Sprunggelenk kein Knochen zusammengewachsen war. „Ich hatte dann die Wahl, dass man alles Metall entfernt und die Knochen mit Antibiotika-Sticks füllt, ehe man das Gelenk erneut versteift – das wäre erneut ein langer Leidensweg gewesen. Oder ich entscheide mich für die Amputation oberhalb des Knies und eine Prothese. Das habe ich getan, aber ein Jahr darauf gingen die Probleme weiter“, sagt Nennemann. Sein Laufstil war unrund, die Haut schwitzte unter der Prothese und entzündete sich. „Ich lief mich am Sitzbein wund und bekam dann ein Neurom, eine Nervenkapselentzündung. Es war ein Gefühl, als ob jemand mit einem Schraubstock die Wade zudrückt, ich hatte unglaubliche Schmerzen.“ Das Neuron wurde mit Botox behandelt und letztlich operativ entfernt – nach vier Wochen aber platzte die Narbe.
Es war der Punkt, an dem Kevin Nennemann schließlich genug hatte. Er hatte von der Endo-Exo-Operation gelesen und der knochenverankerten Prothese, die Prof. Jörn Zwingmann, Chefarzt am St. Elisabethen-Klinikum in Ravensburg, seit ein paar Monaten anbietet – als einer der wenigen Chirurgen in Süddeutschland. „Ich hörte nur Positives darüber – und ging diesen Schritt dann bewusst“, sagt er. Bei der Endo-Exo-Operation wird in den entsprechenden Knochen eine Art Marknagel implantiert. Dieser erhält einen Titan-Anschluss, der durch die Haut ausgeleitet wird und aus dem Beinstumpf ragt. Daran wird in diesem Fall eine hochmoderne Prothese, die eine Art künstliches Kniegelenk besitzt, fixiert und angeschlossen. Für viele Patienten bringt diese Methode eine neue Lebensqualität – eine erheblich bessere Bewegungskontrolle, ein authentisches Tragegefühl, ein natürliches Gehen. Auch Schaftprobleme und Weichteilbeschwerden an den Kontaktstellen gibt es damit nicht mehr.
Auch in Kevin Nennemanns Fall hat die 55. Operation seines Lebens offenbar beste Chancen, sein Leben noch einmal grundlegend zu verbessern. Dass ihm vor zwei Wochen dabei acht Zentimeter am Bein nachamputiert werden mussten, nahm der 39-Jährige in Kauf, das Resultat bestätigt ihn. Derzeit ist er in der Rehabilitation in Isny. Noch muss die Wunde ganz verheilen und schmerzt ein wenig, aber er sagt: „Ich fühle mich gut, spüre endlich wieder Druck auf meinem Bein, weil die Kraft aus dem Oberschenkel kommt und direkt umgesetzt wird. Die Bewegung geht von mir selbst aus. Es ist definitiv besser als zuvor.“
Chefarzt Prof. Dr. Jörn Zwingmann fühlt sich bestätigt. „Die klassische Karbon-Hartschalenprothese ist nicht für alle Patienten das Beste. Die Endo-Exo-Methode ist für ober- und unterschenkelamputierte Patienten, die mit herkömmlichen Prothesen Beschwerden haben, eine exzellente Alternative. Bei Armamputierten gibt es eine ähnliche Versorgungsmöglichkeit. Gerade bei Patienten mit ultrakurzen Stümpfen oder mit Problemen im geschädigten Bein birgt dieses Verfahren eine enorme Lebenserleichterung“, sagt der Chefarzt, zumal wir hier mit spezialisierten Orthopädietechnikern der Firma Kühn zusammenarbeiten. Ihr Mitarbeiter Kazim Yildirim trägt selbst eine Endo-Exo-Prothese.“
Die Vorteile der Methode seien immens: Die Haut des Patienten werde nicht mehr belastet, der Amputierte könne viel bequemer stehen, gehen und sitzen, er hinke nicht mehr, er erlebe die Prothese als Teil des eigenen Systems. Tägliche Aktivitäten wie Gehen, Radfahren und sogar Sitzen erforderten zudem deutlich weniger Energie, so Prof. Zwingmann. „Meine Patienten berichten, sie hätten ein völlig neues Körpergefühl gewonnen. Das ist eine ganz andere Form des Gehens, als wenn man von außen etwas aufs Bein steckt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Endo-Exo-Methode für eine Revolution bei Patienten sorgen wird, die Prothesen tragen müssen.“
Für Kevin Nennemann bedeutet die Operation tatsächlich eine Art neues Zeitalter. Seine Leidensgeschichte könnte ihr Ende gefunden haben. Er sagt: „Ich habe ein vollkommen neues Gefühl im Bein.“